Dass wir uns nicht streiten, heißt noch nicht, das wir uns tatsächlich verstehen
Jan Hron, Respekt (31/2013)
Als ungefähr vor einem Monat der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds im tschechischen Senat sein 15-jähriges Jubiläum feierte, ragte unter den Festreden, die dem Nachdenken über das Zusammenleben mit unserem deutschen Nachbarn gewidmet waren, die Rede von Petr Pithart heraus. Der ehemalige tschechische Spitzenpolitiker und noch heute führende tschechische Intellektuelle war einer der ersten, die sich um gegenseitige Verständigung in den noch heute recht eruptiven tschechisch-deutschen Beziehungen bemühte. Ausgestattet mit dieser nicht einmaligen Erfahrung versuchte er zu umreißen, wie der tschechisch-deutsche Dialog in Zukunft voranschreiten sollte.
Seine Rede ist es wert, ihr Aufmerksamkeit zu widmen. Instinktiv hat er nämlich die Grenzen unserer Vorstellung darüber aufgedeckt, was Verständigung eigentlich bedeutet. Anders gesagt: Verständigung verwechseln wir all zu häufig mit einem Zustand, in dem wir uns gerade nicht streiten. Das ist allerdings ein grundlegender Fehler.
Eure Geschichte, unsere Geschichte
Pithart hebt in seiner Rede hervor, was für eine Erleichterung es für ihn war, als er während der komplizierten und oft schmerzhaften tschechisch-deutschen Diskussionen über die gemeinsame Vergangenheit feststellte, dass wir mit Menschen unterschiedlicher Meinung nicht zwangsläufig irgendeine gemeinsame objektive Wahrheit finden müssen: „Wir können uns der Wahrheit nur annähern, und oft bleibt es nur bei der Begegnung zweier unterschiedlicher Vorstellungen darüber.“ Nach Ansicht Pitharts genügt es, sich gegenseitig die Geschichte zu erzählen und zu versuchen, die Geschichte des Anderen zu verstehen. Ohne Anspruch darauf, dass man dabei übereinkommt.
Das ist sicherlich richtig. Aber zugleich ist es an der Zeit, sich zu fragen, ob eine derartige Vorstellung von Verständigung genügt. In den 1990er Jahren war dies bei den Debatten über die tschechisch-deutsche Vergangenheit sicher ein nützlicher Akzent. Die 40 Jahre währende kommunistische Propaganda tat ihr Übriges: Die Kriegsgrausamkeiten und den Blutdurst der Deutschen kannten wir bis ins Detail, über unsere „Exzesse“ wurde geschwiegen. Aber heute? Wo es kaum noch einen Zeitzeugen gibt, der nicht ein Buch geschrieben hat? Was bringt uns das Erzählen der vergangenen Geschichten Neues?
Pitharts Anleitung legt eine allgemeinere Schwäche tschechischer Intellektueller offen, die einen höflichen Nicht-Konflikt als Gipfel des Dialogs empfinden: Etwas mit Anstand sagen und sich etwas mit Anstand vom Anderen anhören. Wenn zum Beispiel Tomáš Halík über den interreligiösen Dialog spricht, dann meint er damit gerade dieses: auf verschiedenen Diskussionsforen Persönlichkeiten verschiedener Religionen versammeln, damit sich die Gegensätze abschleifen und die Menschen aus verschiedenen Ecken der Erde feststellen, dass die Anderen auch Menschen sind. Oder ein anderes Beispiel: Was ist Havels Forum 2000 anderes als ein prestigereiches Ereignis, auf dem sich bedeutende Promis aus der ganzen Welt in allem Anstand treffen, um dann wieder in allem Anstand auseinander zu gehen? Und wenn sie sich schon gemeinsam auf etwas einigen, dann auf so etwas wie ein globales Minimum („Tue deinem Nächsten nichts an, von dem du nicht möchtest, dass er es dir antut“), das zwar für alle Gültigkeit hat, aber zugleich im Grunde nichts bedeutet.
Selbstverständlich ist es kein geringes Ziel, sich gegenseitig die eigene Geschichte zu erzählen. In einer Zeit, in der wir mit unausgewogenen Informationsfetzen versorgt werden, ist man geradezu froh über jede Geschichte. In einem Dialog kann sich jedoch mehr abspielen.
Der tschechische Philosoph Ladislav Hejdánek sagt, dass der tiefste Sinn eines Dialoges darin besteht, dass wir mitten in der Offenheit gegenüber dem Anderen, gegenüber dem Partner im Gespräch, eine grundlegendere, tiefere, radikalere Offenheit lernen, nämlich eine Offenheit gegenüber der Wahrheit an sich: „Mitten im Gespräch und gegenseitigen Zuhören passiert es, dass die Partner nicht nur jeweils den Anderen vernehmen, sondern beide etwas Drittes, etwas, was sie während des Dialogs und durch ihn erreicht. Der tiefste Sinn des Dialogs ist die Hoffnung, dass mitten in unserem Gespräch, in unserem Erzählen etwas erklingt, was keiner von beiden zuvor gewusst hat und was weder Teil des Verständnisses, Teil der Meinung des Einen noch des Anderen war, dass also die Wahrheit als etwas Neues, Aktuelles, Lebendiges erklingt, als etwas, was beide überzeugt und uns einnimmt.“
Inspiration Polen
Wenden wir einmal Hejdáneks Gedanken auf Pitharts Methode des „Erzählens von Geschichten“ an. Der Dialog ist in diesem Sinne ein imaginärer Raum, in den jeder für sich alleine eintritt, mit seiner eigenen Geschichte, wo wir aber zugleich eine gemeinsame Geschichte erblicken und entdecken, die uns beide übersteigt.
Wir können den Gedanken auch so weit zuspitzen, dass ein Dialog zu nichts nutze ist, solange wir in ihm nichts suchen, was uns verbinden kann oder sogar verbinden sollte, was unsere gemeinsame Aufgabe ist, einen Weg, der in Richtung gemeinsamer Zukunft führt. Alles andere – Anstand, Aufrichtigkeit, Zuhören usw. - ist nicht mehr als eine wichtige Voraussetzung, ein Ziel kann es nicht sein. Das gilt für den Dialog auf persönlicher, interreligiöser und internationaler Ebene. Es geht dabei natürlicherweise um eine große Kunst, in der man leicht versagen kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir es nicht versuchen sollten.
Was die Beziehungen zu den Deutschen betrifft, so könnten zum Beispiel die Polen für uns inspirierend sein. Es ist bekannt, dass der dortige Außenminister Radosław Sikorski vor einiger Zeit Deutschland aufgefordert hat, die Führungsrolle in Europa wahrzunehmen. Noch immer ruft das großes Erstaunen hervor. Die Polen haben – genauso wie wir – tausende geschichtlicher Gründe, Deutschland nicht zu vertrauen. Es ist aber Zeichen eines fortgeschrittenen Dialoges, dass sich die Polen auch über diese Erfahrung hinweg zu Deutschland als einem Land bekennen, das führen soll, und dem sie dabei zur Seite stehen werden.
Polen, Deutschland und Frankreich bilden gemeinsam das so genannte Weimarer Dreieck. Das ist bisher ein eher formaler, aber vor dem Hintergrund der Aufforderung durch Minister Sikorski zumindest doch ein wichtiger Anfang einer Geschichte, die nicht mehr nur „unsere“ oder „ihre“ ist, sondern es geht um eine gemeinsame Geschichte. Es sieht so aus, als hätten die Polen schon verstanden, was wir immer noch nicht verstehen.
Theoretisch könnten wir in unserer Beziehung zu den Deutschen nämlich weiter sein als sie. Schon die Deutsch-Tschechische Erklärung von 1997 verpflichtet uns, gemeinsam mit Deutschland zur Bildung eines geeinten Europas beizutragen. Die Realität sieht jedoch anders aus.
Die Tschechen blicken auf das Projekt eines gemeinsamen Europas mit Skepsis und Misstrauen. Eine gemeinsame programmatische Politik mit Deutschland existiert nicht. Gerne sagen wir, dass unsere gegenseitigen Beziehungen so gut sind wie nie zuvor, zugleich treten wir den Deutschen gern mit Worten vor´s Schienenbein für das, was sie uns im Krieg angetan haben oder für ihre verrückte Energiepolitik. Man könnte das dem niedrigen Niveau der tschechischen Politik zuschreiben. Möglich ist das. Wie aber kann man von den Politikern mehr verlangen, wenn selbst unsere Intellektuellen sich unter Verständigung nicht mehr vorstellen können als schlichte Konfliktlosigkeit?
Klar ist, dass das allein nicht ausreicht. Anstelle eines toleranten Zuhörens bei der „Geschichte des Anderen“, ist es notwendig über eine künftige und gemeinsame Geschichte nachzusinnen. Und zwar nicht nur in unserer Beziehung zu den Deutschen.
Der Originalartikel im Wochenmagazin Respekt
Die Rede von Petr Pithart
JAN HRON
hat Bohemistik an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität studiert. Er arbeitet als Archivar in der Václav-Havel-Bibliothek.